Vom Pestlazarett zur Charité
Epidemiebekämpfung vor 300 Jahren unterschied sich nicht sehr von den Maßnahmen gegen das Corona-Virus – und führte zur Gründung der Charité. Eine historische Reportage.
von Michael Bienert
Die Seuche hatte den östlichen Teil des Königreichs erreicht. Und Majestät blieb erst einmal nicht viel mehr übrig, als das Wetter zu beschwören. Er hoffe, „die Kälte werde es vertreiben und aufhören machen“, schreibt Friedrich I. in der Diktion seiner Zeit am 16. November 1709 an seine besorgte Schwiegermutter in Hannover. Trotz Infektionsgefahr ist er ins ostpreußische Marienwerder gereist, um mit dem russischen Zaren über ein Militärbündnis zu verhandeln. Unterwegs hat er verlassene Dörfer und Bauernhöfe gesehen, verwesende Leichen am Straßenrand und verängstigte Untertanen.
In Königsberg hat sich Kurfürst Friedrich acht Jahre zuvor eigenhändig zum „König in Preußen“ gekrönt. Dort spielen sich schreckliche Szenen ab. Die normale Sterberate liegt bei einem Menschen pro Tag, jetzt sind es 20 und mehr. Vor allem in den ärmeren Vierteln grassiert die Pest, dahingerafft werden die geschwächten Bürger allerdings in jedem zweiten Fall auch von der Entkräftung, den Pocken, der Ruhr und anderen Krankheiten. Die Leichenträger ziehen den ganzen Tag durch die Gassen, um Tote einzusammeln. Weil es an Sargbrettern fehlt, werden sie in Massengräbern verscharrt.
Um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern, hält Miliz die Stadt seit dem 15. November 1709 abgeriegelt. Zur Versorgung Königsbergs sind vor den Stadttoren drei Märkte eingerichtet. In Sichtweite stehen Galgen für diejenigen, die beim Überklettern der Absperrungen erwischt werden. Über zwei hölzerne Schranken hinweg feilschen Bauern und Städter, dann schieben Soldaten die Marktware auf Brettern zu den Käufern hinüber. Ihr Geld wird sofort in Essig desinfiziert. Nur wenige überteuerte Lebensmittel gelangen in die Stadt. Bei den Königsbergern wächst die Wut auf die Behörden. Von den Kirchenkanzeln fordern Prediger, die Maßnahmen gegen die Pest aufzuheben, da sie mehr Menschenleben kosteten als die Krankheit selbst.
In Ostpreußen sterben in den Jahren 1709 und 1710 rund 235 000 Menschen, das ist ein Drittel der Bevölkerung. Vielerorts ist niemand da, um die Ernte einzubringen oder die Felder zu bestellen. Handel und Verkehr mit Gegenden, in denen Pestfälle auftreten, sind untersagt. Der preußische Staat droht im Chaos zu versinken, falls die Seuche die Hauptstadt Berlin infiziert. Das Lebenswerk des ehrgeizigen Königs steht auf dem Spiel.
Berlin wird Spree-Athen
Die Nachwelt wird Friedrich I. für seine Prunklust und Verschwendungssucht verachten, doch Berlin erlebt unter seiner Regierung eine unerwartete Blütezeit. Aus einem Konglomerat von Klein- und Vorstädten hat er durch eine Verwaltungsreform eine stattliche Residenz mit 57 000 Einwohnern geformt. Ihr neuer Mittelpunkt ist die Riesenbaustelle des barocken Stadtschlosses, zu dem der König die alte Burg der Kurfürsten erweitern lässt. Auch Prachtbauten wie das neue Zeughaus oder Schloss Charlottenburg demonstrieren, dass Berlin baulich mit Residenzen wie Dresden oder Wien gleichziehen will. Unter Friedrich I. erhält Berlin eine Akademie der Künste und eine „Societät der Wissenschaften“ mit dem berühmten Universalgelehrten Leibniz an der Spitze. Erstmals wird das bis dato eher unbedeutende Berlin als „Spree-Athen“ besungen.
Die Stadt macht sich schick: Wer es sich leisten kann, imitiert die farbenfrohe französische Mode, die am Hof Einzug hält. Um die Bürger an den immensen Kosten für die Hofhaltung zu beteiligen, müssen sie Perückensteuer zahlen. Der steigende Konsum von Tee, Kaffee und Schokolade spült ebenfalls Geld in die Staatskasse. Doch bei weitem nicht genug: Der preußische Sonnenkönig hinterlässt seinem spartanischen Nachfolger eine gigantische Staatsverschuldung.
Ist die drohende Pest die Strafe für die Hybris eines Herrschers, der den weltlichen Prunk allzu wichtig nimmt? Seit den Epidemien des Mittelalters gilt der Schwarze Tod in Mitteleuropa als göttliches Verhängnis, gegen das nur eines hilft: Buße tun und beten. Am 14. November 1709 gibt die Regierung mit Billigung des Königs ein umfangreiches „Pest-Reglement“ in Druck, das sich wie eine Kapitulationserklärung vor dem Zorn des Allmächtigen liest. „Weil kein Zweifel, dass die Pest eine gerechte Straffe der begangenen Sünden“, sollen insbesondere die Feiertage eingehalten werden, „damit nicht der göttliche Zorn noch mehr entbrenne“. Die „Zusammenkünffte in den Zechen, Schencken, Wein-Bier- und Zunft-Häusern, Spielen, Music, Tantzen und Sauffen“ werden verboten. Die Prediger in den Kirchen sollen „die Pest als eine göttliche Ruthe vorstellen, die Laster ernstlich strafen“, vor allem Völlerei und Unzucht. Panikmache ist allerdings unerwünscht, Ruhe bewahren und sich willig in die Hand des Herrn begeben, das ist unter Friedrich erste Bürgerpflicht.
Immer sind die Juden schuld
Lange Zeit hatte die preußische Regierung versucht, das Problem zu verschleiern und zu verdrängen. Als sich im Frühjahr 1708 die Pest jenseits der preußischen Ostgrenzen ausbreitet, warnt sie die Bevölkerung, dass in Polen „eine ansteckende Seuche grassiret“. Unter den Opfern befände sich eine „nicht geringe Anzahl Juden“, die übrigen seien verjagt worden. Die Grenze wird für „dergleichen Personen“ geschlossen, an den Stadttoren bekannt gemacht, dass unter Androhung der Todesstrafe „niemand einen fremden Juden aufnehmen und herbergieren, sondern selbige an die Juden-Herberge verweisen solle“. Keine Rede davon, dass es sich bei der Seuche um die Pest handelt, die zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied macht!
Ein halbes Jahr später bekommt die schwarze Gefahr einen Namen. „Nachdem die Pest in Pohlen weiter um sich greiffet“, befiehlt der König am 12. Dezember 1708 alle von dort eingeführten „Viehe, Meublen, Betten, Kleider, Wolle, Federn, Rauch-Waaren oder sonsten etwas“ zu verbrennen. Reiseverkehr ist nur noch auf den streng bewachten Heer- und Landstraßen erlaubt. Schleichpfade im Grenzgebiet sollen dichtgemacht, Brücken zerstört, Fährverbindungen eingestellt werden. Wer sich dort herumtreibt, wird zur Abschreckung an Ort und Stelle gehängt. Reisende im Landesinnern müssen einen Gesundheitspass mit sich führen und in Gasthäusern vorweisen. Vorsorglich sollen Pest- und Quarantänehäuser zur Isolierung von Infizierten eingerichtet, Pestärzte bestellt und Medikamente vorgehalten werden.
Am 5. August 1709 werden die Kontrollen an den Berliner Stadttoren verschärft, trotzdem gelangen immer noch Personen ohne Gesundheitsattest in die Stadt. Am 12. September mahnt der König die Gastwirte „höchst mißfällig“, seine Anordnungen nicht weiter zu missachten. Am 17. September befiehlt er den preußischen Behörden, Lebensmittelvorräte für den Ernstfall anzulegen.
In den Seuchengebieten kommt es zu Plünderungen. Banden von „Zigeunern“ und „Landstreichern“ ziehen durch die preußischen Lande und werden von der Regierung für vogelfrei erklärt. Von der Waffe ist ausdrücklich Gebrauch zu machen: „So ist allerhöchstgedachter Sr. Königl. Majestät eigentlicher Wille, daß … bey verspührter Wiedersetzlichkeit, auf dieses Herrenlose und liederliche Gesindel sofort Feuer gegeben werden solle.“
Hilflose Ärzte
In Berlin wacht das „Collegium Medicum“, die zentrale preußische Gesundheitsbehörde, über die Tätigkeit der Ärzte, Chirurgen, Barbiere, Apotheker und Hebammen. Die Ärzte beschränken sich aufs Stellen von Diagnosen und verordnen Medikamente und Kuren. Sie richten oft mehr Schaden an, als dass sie nutzen, wie etwa das Aderlassen, ein beliebtes Allheilmittel. Das Abzapfen des Blutes, Verbinden von Wunden, Schienen von Brüchen, Einrenken von Gliedern und Herausschneiden von Gallensteinen überlassen die Ärzte den Barbieren und Chirurgen. Wie das Rasieren ist die Chirurgie ein Handwerk und Lehrberuf. Sie wird auf mehrjähriger Wanderschaft bei Meistern erlernt, die von Anatomie meist selbst wenig Ahnung haben. Bezeichnend für den Wissensstand ist, dass König Friedrich I. den Berliner Scharfrichter 1709 zu seinem Hof- und Leibmedicus ernennt. Durch das Foltern und Vierteilen hat er sich gründlichere Kenntnisse des menschlichen Körpers erworben als die meisten studierten Ärzte. Das frische Blut von Enthaupteten verkauft er als Medizin gegen epileptische Anfälle.
Eine beliebte Gesellenprüfung für Chirurgen ist der Starstich, bei dem die getrübte Augenlinse älterer Patienten mit einer Nadel auf den Boden des Augapfels gedrückt wird. Reisende „Okulisten“ bieten diese Behandlung auf Jahrmärkten an – wenn der Patient hinterher erblindet, sind sie schon über alle Berge. Weitsichtige Ärzte wie der königliche Hofmedicus Janus Abraham a Gehema fordern gegen die Qualen der Patienten eine Vereinigung von Medizin und Chirurgie. Das „Pest-Reglement“ vom 14. November 1709 warnt vor „Quacksalbern, Betrügern und Pfuschern“, die den verängstigten Menschen fragwürdige Tinkturen und Amulette gegen alle möglichen Krankheiten verkaufen. Doch auch der von den führenden Ärzten Preußens erarbeitete Pandemieplan gegen die Pest ist ein Dokument der Hilflosigkeit.
So rät die Gesundheitsbehörde davon ab, sich Amulette mit hochgiftigem Arsen um den Hals zu hängen; stattdessen empfiehlt sie Quecksilber in einer ausgehöhlten Haselnuss auf dem Körper zu tragen. Zerspringe die Haselnuss, sei das wahrscheinlich ein Zeichen, dass die Infektion dorthin abgelenkt worden sei. Zur Stärkung der Abwehrkräfte wird dem, „dessen Vermögen es zulässet“, ein gutes, nicht zu starkes Bier empfohlen. Alle anderen müssen sich mit einer Butterschnitte begnügen, dazu Holunder-, Wacholder- oder Fliedermus, ein bisschen Lorbeer oder Knoblauch schadet auch nicht.
Das Pestbakterium wird erst 1894 identifiziert. Die Mediziner um 1700 gehen von einer Vergiftung („Contagion“) aus, die durch verpestete Luft und Körperkontakt übertragen wird. Das Gift muss ausgeräuchert oder durch Schwitzkuren aus dem Körper vertrieben werden. Gebratene Zwiebeln und Zugpflaster sollen es aus den schwarzen Pestbeulen unter der Haut der Infizierten heraussaugen.
Ein Pesthaus für die Kranken
Die einzig wirksame Maßnahme gegen die Seuche ist die Trennung der Gesunden von den Kranken. Wie dramatisch die Lage eingeschätzt wird, zeigt eine große Baustelle draußen auf der grünen Wiese vor der Stadt. Auf dem heutigen Gelände der Charité entsteht im Frühjahr 1710 ein Pestlazarett mit 400 Betten für die Todgeweihten. Auf einer Grundfläche von 50 Metern im Quadrat ziehen Bauarbeiter robustes Fachwerk hoch und verfüllen es mit Steinen. Vier Flügel umschließen einen Innenhof, der von außen nicht eingesehen werden kann. Das Pesthaus ist eine weitgehend autarke Krankenstadt mit eigenem Personal, Apotheke, Brennholz- und Lebensmittelvorräten.
Verglichen mit späteren Krankenhäusern wirkt die 400-Betten-Anlage bescheiden, doch für eine Stadt mit nur 57 000 Einwohnern stellt sie eine enorme Leistung dar. Hochgerechnet auf das heutige Berlin würde es heißen, ein zusätzliches Krankenhaus mit 20 000 Betten zu bauen und damit die Bettenzahl in der Stadt zu verdoppeln. Derzeit steht statistisch ein Krankenhausbett für 160 Einwohner zur Verfügung, im Pesthaus kommt 1710 ein Bett auf 140 Berliner. Das Lazarett ist großzügig angelegt und reichlich mit Fenstern und Frischluftklappen versehen, damit die giftigen Ausdünstungen der Pestkranken abziehen können. Das „Pest-Reglement“ schreibt hinreichenden Abstand zwischen den Krankenbetten vor, damit die Patienten bequem versorgt und die Toten abtransportiert werden können. Für Rekonvaleszenten ist eine Quarantänestation vorgesehen, in der sie bis zum Verschwinden aller Symptome ausharren sollen.
Es gibt keine Dokumente, die belegen, wie weit der Bau im August 1710 fortgeschritten ist, als neue Schreckensnachrichten in Berlin eintreffen. Die Pest hat Prenzlau und die Uckermark erreicht. Die Regierung verschärft abermals die Kontrollen an den Berliner Stadttoren. Wer beim Übersteigen der Palisaden um die Residenz erwischt wird, ist sofort zu erschießen. Wie schon im Herbst des Vorjahres ergeht alle paar Tage eine neue Verordnung zum Schutz vor der Pest. Juden wird jeglicher Handel untersagt. Alle 14 Tagen wird von den Kanzeln verlesen, wie mit der verseuchten Habe von Pesttoten umzugegangen werden soll.
Die Seuche macht einen Bogen um Berlin
Doch die Pest hat keine Lust auf die preußische Bürokratie. Sie schleicht um Berlin herum. Vom Baltikum greift sie 1711 auf Stockholm über, breitet sich nach Süden aus, erreicht Kopenhagen, Schleswig-Holstein und Hamburg. In Polen hält sie sich bis 1713, in Österreich bis 1716, wütet 1718 in Siebenbürgen, der Türkei und Syrien, ab 1720 in Südfrankreich. Zwei Jahre später verebbt die letzte große Pestwelle in Europa.
Im Berliner Pesthaus vor dem Oranienburger Tor finden kranke Mitbürger ein Unterkommen, vor allem Alte und Arme. Auch Bettler und Prostituierte werden dort eingewiesen und zur Arbeit gezwungen. Ab 1713 regiert ein neuer König in Preußen. Die Zeit der rauschenden Feste am Hof ist vorüber, lieber beeindruckt der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. die europäischen Konkurrenten mit einer Riesenarmee. Sein Heer braucht kundige Ärzte und Chirurgen so nötig wie Kanonen, deshalb investiert der neue Herrscher in die medizinische Grundlagenforschung und Ausbildung.
Das Pestlazarett lässt er ab 1727 zu einem Musterkrankenhaus für Bürger und Soldaten ausbauen. Auf den Rand eines Aktenstücks notiert der fürsorgliche König: „Es soll das hauß die charité heißen.“
Erschienen 2010 im TAGESSPIEGEL