Kästner in Dresden

In der Dresdner Neustadt, 2009 (Foto: Paulae)

Ein Spaziergang

Dieser Text ist 1999 zum 100. Geburtstag Erich Kästners in der ZEIT erschienen, aber nicht ganz von gestern, obwohl sich seither in Dresden viel verändert hat. Folgen Sie dem Schriftsteller auf eine doppelte Zeitreise.

von Michael Bienert

Zu ihrem hundertsten Geburtstag haben die toten Dichter einen Wunsch frei. So bittet Erich Kästner beim Geschäftsführer des Dichterhimmels um eine Bahnfahrkarte nach Neustadt. So heißt der Ort, von dem aus der kleine Emil Tischbein in einem bekannten Kinderbuch zur gefährlichen Reise nach Berlin aufbricht. Neustadt ist keine Erfindung Erich Kästners. Er ist dort geboren und aufgewachsen, in einem ärmlichen Viertel des Dresdner Nordens, abseits der barocken Schauseite der Stadt. Vom Bahnhof Dresden-Neustadt kann er die Wohnungen und Spielplätze seiner Kindheit zu Fuß erreichen.

Die Bahnhofshalle ist schwarz wie zu Zeiten der Dampflokomotiven. Niemand erwartet Herrn Kästner auf dem Bahnsteig, wo ihn die Mutter so oft unter Tränen verabschiedete.

Herr Kästner geht die Antonstraße entlang zum Albertplatz. Die Villa von Onkel Franz, dem Pferdemillionär, ist eingerüstet und bekommt einen ganz neuen Dachstuhl. Als kleiner Junge hat Herr Kästner dicke Geldtaschen für den Onkel zur Bank geschleppt. Jetzt sucht er seinen alten Lieblingsplatz auf der Gartenmauer. Aus der Loge zwischen Jasmin und Kirschbäumen hat er stundenlang die Straßenbahnen, Lastwagen, Soldaten und Passanten auf dem Albertplatz beobachtet. Noch immer ist der kreisförmige Platz eine Verkehrsdrehscheibe, rundum dröhnen jetzt die Autos.

An der Einmündung der Alaunstraße findet Herr Kästner das Denkmal. Es ist genauso groß oder vielmehr klein wie er selbst. Es trägt auch einen Hut. Aber Kopf und Rumpf werden durch einen Bücherstapel vertreten, die Beine ersetzt ein Kaffeehaustisch. Alles aus Bronze. Auf der Tischplatte liegen die Werkzeuge des Berufsschriftstellers: Stift und Schreibblock, eine zusammengerollte Zeitung, stehen Kaffeetasse und Whiskyglas. Trotz der Kälte bleibt ab und zu jemand stehen, um die Statue zu mustern. Herr Kästner ist sehr zufrieden.

Das Café Kästner im Plattenbau hinter dem Denkmal nennt sich jetzt neumodisch Kästner’s. Es hat sich schwarze Barhocker zugelegt, öffnet früh und schließt erst im Morgengrauen. Aufschwung Ost, denkt Herr Kästner, aber der Kaffee schmeckt noch immer nicht. Er bestellt einen Whisky. Auf der Getränkekarte liest er, daß er in der Nachbarschaft geboren sei und mit seiner Mutter halb Deutschland durchwandert habe. 1974 sei er in München „als Junggeselle“ gestorben. Ob das die Besucher der freitäglichen Singlepartys interessiert?

Nach dem dritten Whisky wandert er auf der lauten Königsbrücker Straße stadtauswärts, an Villen vorbei und den vertrauten Mietskasernen entgegen. Ecke Louisenstraße steigt ihm der Duft der Kuchenbäckerei Rißmann in die Nase. Mit den vormaligen Besitzern, der Familie Wirth, hatte er noch in der Nachkriegszeit Briefkontakt gehalten. Unwillkürlich biegt er in die schmale Louisenstraße ein, um bei Stammnitzens Blumen zu kaufen. Erst vor dem Laden im Haus Nummer 21, über dessen Schaufenster noch der alte Name zu lesen ist, fällt ihm ein, daß es niemanden mehr zu besuchen gibt.

Ein Fernsehteam drängelt sich in dem hübschen kleinen Laden und interviewt zwei junge Blumenhändlerinnen. Ja, sie hätten den Laden vor sieben Jahren von einem Nachfahren der Familie Stammnitz übernommen, berichten sie. Aus diesem Laden stamme der Blumenstrauß, den der kleine Emil für die Oma mit nach Berlin genommen habe. Es kämen häufig Leute in den Laden, um sich danach zu erkundigen. Herr Kästner, den niemand erkennt, lauscht vergnügt. Als die Fernsehleute einpacken, kauft er eine Rose, die er draußen auf der Straße ins Knopfloch seines blauen Maßanzugs steckt und unter seinem Mantel verbirgt.

Zuhause in der Königsbrücker Straße

Die Tür zur Königsbrücker Straße 38, der letzten Wohnung der Eltern, ist verschlossen. Er geht weiter an der lauten Ausfallstraße entlang. Als er ein kleiner Junge war, gab es keine Autos, da spielte man noch mit dem Kreisel mitten auf der Straße. In die Eckkneipe Sibyllenort wurde er zum Bierholen geschickt, als die Mutter ihr Friseurexamen bestanden hatte. Frisiert hat sie zu Hause, und er hat das warme Wasser aus der Küche herbeigeschleppt. Königsbrücker Straße 48, hier war’s. Das Haus ist schick renoviert worden, normalerweise kommt man da nicht rein. Aber der Teeladen im Parterre erwartet gerade eine Lieferung, die Tür steht sperrangelweit offen.

Statt nach Kartoffeln und Rotkohl riecht es im Flur nach Vanilletee. Auf Zehenspitzen schleicht Herr Kästner die Treppe hinauf. Einmal rannte er mit einem Blumenstrauß von Stammnitzens rauf, der Mutter entgegen, glitt auf der Treppe aus und biß sich beim Aufprall die Zungenränder durch. Der Mund war wochenlang geschwollen, zur Schule ist er trotzdem gegangen. Ein Musterknabe eben. Wie viele Einkaufstaschen hat er hier hinaufgeschleppt? Als Herr Kästner vor den Türen im dritten Stock ankommt, klingelt er nicht. Da sitzt jetzt eine Personalagentur.

Durch den neuen gläsernen Fahrstuhlschacht blickt er auf die graubraunen Hinterhöfe der Neustadt, seine Spielplätze. Unten auf der Straße steckt eine farbenfroh bemalte Straßenbahn im Stau fest, an deren Fenstern sich die Kinder einer Grundschulklasse die Nasen platt drücken. Vorn trägt die Bahn einen Löwenkopf, an den Seiten sind Blumen, Tiere und ein Regenbogen aufgemalt. Das muß die Kinderstraßenbahn sein, denkt Herr Kästner, die sie mir zu Ehren Lottchen getauft haben. Schnarrend öffnet Lottchen die Türen, und ein Schwarm buntbemützter Kinder springt auf den Bürgersteig der Königsbrücker Straße.

Sie ziehen zum Haus Nummer 66, wo seit vielen Jahren eine Gedenktafel an der Toreinfahrt hängt. Herr Kästner hat an sein Geburtshaus keine Erinnerungen. Für ihn ist es immer eine verwechselbare Mietskaserne geblieben. Ein Stadtführer erzählt den Kindern, wie man damals hier gelebt hat, mit Außenklo auf halber Treppe. Daß der Vater in die Fabrik ging und nie genug Geld mit nach Hause brachte. Daß die Mutter sich halb totarbeitete, um den Jungen in die Schule und auf die Uni zu schicken.

Er mußte ihr zur Hand gehen, mußte einholen und die frische Wäsche auf dem Trockenplatz bewachen. Das erzählt man jetzt den Kindern in der Scheunenhofstraße, wo der Trockenplatz lag, neben dem baufälligen Häuschen des Kohlenhändlers Wendt. Der Stadtführer liest ein paar Verse: „Die Wäsche wogte wie ein weißes Zelt. / Dann kam die Mutter mit Kaffee und Geld. / Ich kaufte Kuchen, für die Mittagspause / in dieser fast geheimnisvollen Welt.“

Hechtviertel und Militärmuseum

Die Kinder ziehen stadteinwärts, während Herr Kästner unter dem Bahndamm hindurch ins Hechtviertel weiterwandert. Das sieht noch immer nach Armeleutegegend aus, nur sind die Straßen heutzutage fast wie ausgestorben. In der Hechtstraße 29 hatte Onkel Paul, der Pferde an den sächsischen Hof lieferte, sein Geschäft. Der Pferdehandel von Onkel Franz lag genau gegenüber in der Nummer 30. Gerade öffnet ein Bauarbeiter das Hoftor. Herr Kästner schlüpft mit hinein und steht zwischen den alten Stallungen. Das sind jetzt alles Garagen. Er hört das Hufgetrappel und Pferdewiehern, das Fluchen der Knechte und Feilschen der Kunden. Sie waren ja tüchtige Leute, diese Onkels, aber ihre armen Verwandten hätten sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen.

Die königlich-sächsische Armee brauchte viele Pferde. Und die Neustadt grenzte an den größten Militärstandort des Kaiserreiches. Herr Kästner hat hier gedient und sich einen Herzschaden dabei geholt. So wird man Pazifist. Als er nach dem letzten Weltkrieg Dresden besuchte, um die Eltern zu sehen, war die barocke Altstadt ein Trümmerhaufen, aber die Kasernen standen immer noch da. In die Pionierkaserne an der Königsbrücker Straße ist jetzt das Landesstudio Sachsen des Mitteldeutschen Rundfunks eingezogen. Am Abhang zur ehemaligen Exerzierwiese, dem Alaunplatz, fährt ein Mann mit seinem Jungen Schlitten.

Das riesige Armeemuseum der Nationalen Volksarmee im alten Arsenal heißt jetzt Militärhistorisches Museum der Bundeswehr. Statt eines Wegweisers zum Eingang findet Herr Kästner ein Warnschild: „Militärischer Sicherheitsbereich! Unbefugten Betreten verboten! Vorsicht Schußwaffengebrauch. Der Standortälteste.“ Da fühlt er sein Herz und macht auf dem Absatz kehrt.

Den Rest des Tages verbringt Herr Kästner in angenehmer Gesellschaft. In der Dreikönigskirche, wo er getauft und konfirmiert wurde, trifft er sich mit Beate Thurisch. Sie ist Sozialarbeiterin und bietet in der diakonischen Begegnungsstätte für geistig Behinderte Abendkurse zu seinem Leben in Dresden an. Anschließend fährt Herr Kästner zum Sportamt, wo das Dresdner Literaturbüro Unterschlupf gefunden hat. Die Leiterin Andrea O’Brian will mit ihm das Programm der diesjährigen Kästner-Tage besprechen. Sie möchte nicht bloß seine Person feiern lassen, sondern Gespräche über seine Themen anregen. In diesem Jahr ist das Thema Arbeit dran. Neben Schiftstellern und Literaturwissenschaftlern hat sie Sozialwissenschaftler und junge Auszubildende eingeladen. Herr Kästner findet das spannend.

Seine Zeit ist fast um. Herr Kästner dreht noch rasch eine Abendrunde durch die Altstadt, wirft einen Blick in den menschenleeren Zwinger und auf die Baustelle der Frauenkirche. Zur verabredeten Stunde steht er auf der Augustusbrücke. Er starrt in die schwarzen Strudel der Elbe unter den gewaltigen Sandsteinbogen. Wie seine Mutter, die er als Kind hier fand, wenn sie wieder einmal Abschiedsbriefe auf dem Küchentisch hinterlassen hatte. So hielt sie ihn im Griff. Fabian, seinen Romanhelden, hat er von dieser Brücke springen lassen. Nun ist er selber dran. Herrn Kästner schaudert’s ein bißchen. Niemand bemerkt den Schatten, der über die breite Steinbrüstung gleitet.

Erstdruck in: DIE ZEIT, Nr. 9/1999