Ein Komponist im Berlin der 1920er-Jahre
Stellen Sie sich vor, Sie fänden in Ihrer Zeitung regelmäßig die Klaviernoten aktueller Hits, um sie auf dem Klavier nachzuspielen. Das gab es im Berlin der Weimarer Republik tatsächlich. „Jede Woche Musik“ hieß die Beilage des „Berliner Tageblatts“. Die Ausgabe vom 18. Juni 1927 präsentierte einen Walzer aus dem Ballett „Der letzte Pierrot“, das im Mai an der Staatoper uraufgeführt worden war. Publikum und Kritik hatte der Abend mit Ballettdirektor Max Terpis in der Titelrolle gleichermaßen hingerissen.
Das Stück handelte von einem clownesken Pierrot, der sich auf der Suche nach seiner geliebten Colombine in die Maschinenwelt einer Fabrik und einen Ballsaal mit Jazzkapelle verirrt, ehe er für immer zur Wachspuppe erstarrt. Die Verbindung von traditionellen und modernen Motiven passte perfekt in die ehrwürdige Lindenoper, die in der Metropole der Zwischenkriegszeit nach ästhetischer Zeitgenossenschaft suchte.

„Das ist der erste anständig gelungene Versuch, vom Ballettschmalz und von expressionistischen Seelendrücken loszukommen“, jubelte die „Vossischen Zeitung“, und das „Berliner Tageblatt“ lobte die raffinierte Kompositionstechnik: „Die Musik trifft das Maschinell-Elementare, das jazzhaft Ausgelassene, das graziös Gebundene mit gleichem Erfolg.“ Ein Triumph für den Komponisten Karol Rathaus, der eng mit dem Choreographen Max Terpis, einem Schüler Mary Wigmans, zusammengearbeitet hatte.
Heute kennen den Namen Karol Rathaus in Berlin nur ein paar Spezialisten für Musik, die in der Nazizeit als „entartet“ diffamiert wurde. Vor 1933 setzten sich führende Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Erich Kleiber für seine Orchesterstücke ein. Rathaus war in Konzertprogrammen, im Theater, im Radio und im Kino präsent. Wegen seiner jüdisch-polnischen Herkunft musste er sich vor den Nazis in Sicherheit bringen. Über Paris und London führte das Exil bis nach New York, wo Rathaus bis zu seinem Tod 1954 Komposition am Queens College lehrte. Dort wird auch sein Nachlass verwahrt. Ein Team von Rathaus-Fans um den Musikproduzenten Michael Haas und den Physikprofessor Lev Dych hat die Lebensstationen von Rathaus bereist und arbeitet an einem Dokumentarfilm, der dieses Jahr fertig werden soll.
Geboren wurde Rathaus 1895 in einer polnisch-jüdischen Familie in Tarnopol, heute in der Westukraine gelegen, damals am Rand der Habsburgermonarchie. Rathaus besuchte ein deutsches Gymnasium und wurde als musikalisches Wunderkind nach Wien geschickt, wo er Musikunterricht nahm und in Jura promovierte. 1920 folgte er seinem Lehrer Franz Schreker nach Berlin, als dieser die Leitung der Musikhochschule an der Fasanenstraße übernahm. Wegen finanzieller und gesundheitlicher Schwierigkeiten kehrte Rathaus oft nach Tarnopol zurück, wohnte in Berlin meist bei Verwandten oder in Pensionen. Seine Frau Gerda Pfefferkorn lernte er in Berlin kennen, mit ihr zog er 1928 in die Paulsborner Straße 90 in Wilmersdorf, gab die Wohnung aber bald wieder auf.
Nach dem Erfolg von „Der letzte Pierrot“ bat Generalmusikdirektor Erich Kleiber den Komponisten auf, eine Oper zu schreiben. Für Rathaus war klar, dass eine zeitgenössische Oper eine gesellschaftskritische Handlung braucht. Er entschied sich für ein Buch der Librettistin Kamilly Palff-Wanieck über die Geschichte einer litauischen Auswandererfamilie. Die Oper „Fremde Erde“ wurde am 10. Dezember 1930 an der Staatsoper unter Kleibers Leitung uraufgeführt. Im Publikum saßen zwei galizische Freunde des Komponisten, die Journalisten Joseph Roth und Soma Morgenstern. Roth „beweinte das Schicksal dieser Heimatlosen drei Akte lang und verbrauchte zwei Taschentücher wie ein Dienstmädchen am Sonntagnachmittag im Kino“, erinnerte sich Morgenstern. Die Kritik aber reagierte reserviert. Verrissen wurde die altmodische Dramaturgie des Textbuches, die zur avantgardistischen Kompositionstechnik nicht passen wollte.

Mehr Glück hatte Rathaus mit seinem Debüt als Filmkomponist. In der Dostojewski-Adaption „Der Mörder Dimitri Karamasoff“ von 1931 gibt oft die Musik den Filmbildern den Takt vor. Der aus Moskau stammende Regisseur Fjodor Otzep fand in Karol Rathaus einen idealen Partner, um neue Gestaltungsmöglichkeiten auszuloten. Die Musik sei weder illustrativ noch opernhaft, sondern wirklich „tonfilmisch“, so der Musikkritiker Heinrich Strobel. Folgeaufträge blieben nicht aus: Für die Filmsatire „Die Koffer des Herrn von O. F.“ vertonte Rathaus Texte von Erich Kästner. Er schrieb auch Musik für die deutsch-französische Liebesromanze „Hallo Hallo! Hier spricht Berlin“ von Julien Duvivier und für Fjodor Otzeps „Mirages de Paris“, dessen deutsche Version unter dem Titel „Großstadtnacht“ im Januar 1933 in die Kinos kam.
Pressefotografen porträtierten Karol Rathaus 1931 als musikalischen Partner des Dichters Alfred Döblin. Anlass war eine geneinsame Produktion an der Volksbühne. In Gesprächen mit Erwin Piscator und Bertolt Brecht hatte Döblin ein antinaturalistisches Theaterkonzept mitentwickelt, das Brecht später als „episches Theater“ kanonisierte. In dem Stück „Die Ehe“ spielte Döblin den Zerfall der Institution Ehe im Kapitalismus szenisch an Beispielen aus verschiedenen Milieus durch. „Nieder damit!“, tobte der Kritiker Alfred Kerr: „An Alle: Das Zeitalter des schlechten Zeitstücks ist hiermit geschlossen.“ Der Komponist Karol Rathaus sah sich haltlosen Vorwürfen ausgesetzt, er habe Kurt Weills „Dreigroschenoper“-Musik schlecht kopiert. Während „Die Ehe“ in München wegen angeblich kommunistischer Tendenz nach zwei Wochen verboten wurde, konnte sie sich an der Volksbühne auf dem Spielplan behaupten.
Die Suche nach Spuren von Karol Rathaus führt mitten in die ästhetischen Kontroversen der Weimarer Republik. „Leider ist unsere Wahrnehmung dieser Zeit selektiv und das gilt für Komponisten der Neuen Musik besonders“, sagt der Berliner Musikwissenschaftler und Produzent Frank Harders-Wuthenow, der sich lange für die von den Nazis verfemte Musik einsetzt. Außerdem passe Rathaus in keine Schublade. „Aber das ist Musik vom Allerfeinsten, die er hinterlassen hat und ein Geschenk an uns, das wir annehmen sollten.“
Michael Bienert
Erstdruck: Der Tagesspiegel vom 11. Januar 2025