
Stadtführungen
Seit dem großen Kleist-Jubiläum zum 200. Todestag im Jahr 2011 bietet Michael Bienert literarische Stadtführungen an, bei denen Kleist letztes Lebensjahr im Mittelpunkt steht. Kleists letztes großes Projekt waren die „Berliner Abendblätter“, eine zukunftsweisende Zeitung für die preußische Hauptstadt. Sie ging an der Engstirnigkeit der damaligen Regierung und Behörden zugrunde. Auf den Spuren der „Abendblätter“ entsteht ein Bild von Berlin um 1810, aber auch Kleists Dramatik und Lyrik werden gestreift. Führungen für Schülergruppen können an die aktuelle Unterrichtslektüre angepasst werden. Aktuell steht in Berlin und Brandenburg „Der zerbrochne Krug“ auf dem Lehrplan fürs Abitur.
Der folgende Kleist-Stadtplan von Michael Bienert bildet zentrale Kleist-Orte in der Stadtmitte ab. Er wurde zuerst veröffentlicht im Tagesspiegel vom 27. Februar 2011.

Kleist-Stadtplan
Am 21. November 1811 erschoss der Dichter Heinrich von Kleist am Kleinen Wannsee erst seine Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst. Am folgenden Tag wurden beide obduziert und an Ort und Stelle beerdigt. Die Grabstelle gehört seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den bekanntesten Literaturgedenkstätten in Deutschland, doch wo sich Kleist sonst in Berlin aufgehalten hat, ist wenig bekannt. Er hat schon als Kind in der Stadt gelebt und in den letzten beiden Lebensjahren eine wichtige Rolle im Berliner Kulturleben gespielt – vor allem als Herausgeber, Redakteur und Hauptautor der „Berliner Abendblätter“. Von Oktober 1810 bis März 1811 erschien die Zeitung täglich außer sonntags, so etwas hatte es in Berlin noch nicht gegeben. Kleist druckte aktuelle Polizeinachrichten neben Kunstkritiken, Anekdoten und Essays wie seiner Abhandlung „Über das Marionettentheater“. Politische Artikel wurden ihm zum Verhängnis: Die preußische Obrigkeit wünschte keine freie Presse und setzte den Herausgeber durch Zensurmaßnahmen unter Druck. Das Blatt verlor an Qualität, deshalb musste Kleist nach einem halben Jahr das Erscheinen einstellen. Vergeblich kämpfte er um eine Entschädigung vom preußischen Staat. Berlin war damals eine Stadt mit 150.000 Einwohnern. Im Jahr 1810 wurden 6094 Häuser an 133 Straßen und 91 Gassen, 34 Brücken und 29 Kirchen gezählt. Es gab keine Kanalisation und kein fließendes Wasser, aber schon Straßenbeleuchtung. Berlin war in 102 Polizeibezirke eingeteilt, die auf unserem Stadtplanausschnitt aus dem Jahr 1811 durch farbige Linien abgegrenzt sind. Kleist wohnte zuletzt in der Friedrichstadt, damals ein beliebtes Wohngebiet von Autoren, Schauspielern und kulturell interessierten Bürgern. Alle wichtigen Adressen konnte er bequem zu Fuß in wenigen Minuten erreichen.

(1) Der Großonkel im Tiergarten. Heinrich von Kleist entstammte einer weit verzweigten Offiziersfamilie, die zu seiner Zeit bereits 18 Generäle hervorgebracht hatte. Sein Großonkel Ewald von Kleist (1715-1759) wurde in Preußen als Dichter und als unerschrockener Kriegsheld verehrt, er starb an den Folgen einer schweren Verwundung nach der Schlacht bei Kunersdorf. Die Aufklärer Lessing, Nicolai und Mendelssohn adressierten ihre „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ an den Freund Ewald von Kleist; daher findet sich sein Bildnis auf dem 1890 eingeweihten Lessing-Denkmal im Tiergarten. Auch Heinrich von Kleist begann mit 15 Jahren eine Militärlaufbahn in Potsdam, der er nach sieben Jahren entfloh: Der Widerspruch zwischen den strengen Pflichten eines Offiziers und den eigenen moralischen Maßstäben empfand er als Marter.

(2) Französisches Gynasium. Kleists Eltern schickten ihren 10-jährigen Sohn 1788 zum Französischlernen für fünf Monate nach Berlin. Er wohnte bei dem Prediger und Lehrer Samuel Henri Catel in der Kronenstraße 54. Sehr wahrscheinlich hat er am Unterricht in einer französischen Privatschule in der Mohrenstraße 47 und im „College Francois“ teilgenommen, dem Vorläufer des französischen Gymnasiums. Die Schule stand an der Niederlagstraße 1-2 hinter dem Kommandantenhaus, das als Sitz der Bertelsmann-Stiftung wiederaufgebaut wurde.

(3) Berliner Rathausglocken. Kleist wohnte 1804 einige Zeit im Haus Spandauer Straße 53, auf dem Grundstück steht heute ein Teil des Roten Rathauses. Reste des alten Rathauses wurden im vergangenen Jahr vor dem Haupteingang ausgegraben. Kleist hatte das Bimmeln der Rathausglocke im Ohr, als er seine Anekdote „Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken“ schrieb, darin versucht ein Trinker dem Alkohol abzuschwören, doch vom Rathausturm bimmelt es verführerisch: „Kümmel! Kümmel! Kümmel!“ Der marode Turm des alten Rathauses wurde übrigens schon acht Jahre nach Kleists Tod abgebrochen und fehlt auf späteren Bildern.

(4) Kleisthaus, Mauerstraße 53. Hier hauste Kleist in den letzten Monaten seines Lebens. Die befreundeten Dichter Clemens Brentano und Achim von Arnim, Mitarbeiter an den „Abendblättern“ lebten in der Nummer 34, Ecke Behrenstraße, in einer Art Männer-WG zusammen. 1912 wurde Kleists Wohnhaus , hier noch auf einem alten Foto zu sehen, durch ein Bankgebäude ersetzt. Ein Relief des Bildhauers Georg Kolbe zeigt dort seitdem Kleist im Profil und darüber eine nackte Amazone mit Schild und Speer – ein Hinweis auf sein Drama „Penthesilea“. Kleist wurde so als Vorläufer der Moderne gewürdigt. Außerdem hängt am Haus eine ältere Gedenktafel der Stadt Berlin aus Jahr 1890. Seit 2001 Dienstsitz des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Im Kleisthaus finden auch Konzerte, Lesungen, Film- und Theatervorführungen statt.

(5) Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Das heutige Konzerthaus steht auf den Grundmauern des 1817 niedergebrannten Nationaltheaters. Zu Kleists Zeiten leitete es der berühmte Schauspieler und Dramatiker August Wilhelm Iffland. Er weigerte sich, Stücke von Kleist zu spielen. Als Iffland 1810 das “Das Käthchen von Heilbronn” ablehnte, schrieb ihm Kleist zurück: “Es tut mir leid, dass es ein Mädchen ist; wenn es ein Junge wäre, so würde es Ew. Wohlgeboren wahrscheinlich besser gefallen haben.” Diese Anspielung auf Ifflands Homosexualität machte in ganz Berlin die Runde.

(6a/b) Berliner Abendblätter. In der Jägerstraße 25 (6a) befand sich ein Leseinstitut mit 200 laufend gehaltenen Zeitungen und Zeitschriften, die Kleist als Quelle für die “Berliner Abendblätter” ausschlachtete. Eine Leihbibliothek im Haus diente als Ausgabestelle. In der ersten Woche wurden die “Abendblätter” noch “Hinter der katholischen Kirche 3, zweiter Stock “(6b) (also an der St.-Hedwigs-Kathedrale) ausgegeben, doch der Ansturm war so groß, dass Kleist ein größeres Lokal suchen musste. Besonderes Aufsehen erregten die aktuellen Polizeinachrichten aus Berlin, die Kleist anfangs vom Polizeipräsidenten Justus Gruner bezog. Sie sollten, so Kleist, nicht nur unterhalten, sondern durch “gegründete Tatsachen” die Bildung von Gerüchten verhindern und der Polizei helfen, “gefährlichen Verbrechern auf die Spur zu kommen.” Der Ausgabestelle vis-à-vis an der Jägerstraße 54 erinnert heute eine Gedenktafel an Rahel Varnhagen, in deren Salon Kleist verkehrte.

(7) Prinz Homburg im Lustgarten. Wo seit 1905 der Berliner Dom steht, stand zu Kleists Zeiten die bescheidenere Schlosskirche. Davor lässt Kleist eine Szene seines Stücks “Prinz Friedrich von Homburg” spielen. Der Kurfürst von Brandenburg ist verärgert, weil er den preußischen Sieg in der Schlacht bei Fehrbellin 1675 einer Disziplinlosigkeit verdankt: “Wer immer auch die Reuterei geführt, / Der ist des Todes schuldig, das erklär ich, / Und vor ein Kriegsgericht bestell ich ihn.” Überraschend taucht der vom Kurfürsten geschätzte Prinz auf und gibt sich als Verantwortlicher zu erkennen. Er wird entwaffnet und abgeführt: “Helft Freunde, helft! Ich bin verrückt!”

(8) Universität. Kleist studierte ab 1799 in seiner Heimatstadt Frankfurt/Oder Physik, Mathematik, Philosophie und Rechtskunde, doch schon im folgenden Jahr verging ihm im Lust. Die Berliner Universität begann 1810 mit dem Vorlesungsbetrieb im Prinz-Heinrich-Palais Unter den Linden. Als Kleist in den “Berliner Abendblättern” über eine Schlägerei zwischen Studenten und Handwerkern in einem Tanzlokal berichtete, protestierte der Universitätsrektor beim Polizeipräsidenten und erzwang den Abdruck einer Gegendarstellung.

(9) Kronprinzenpalais. “Ich habe der Königin an ihrem Geburtstag ein Gedicht überreicht, das sie vor den Augen des ganzen Hofes zu Tränen gerührt hat; ich kann ihrer Gnade und ihres guten Willens, etwas für mich zu tun, gewiss sein”, schreibt Kleist am 19. März 1810 an seine Schwester Ulrike. Denkbar, dass Kleist die Szene im Schloss frei erfunden hat, um sie zu beeindrucken. Königin Luise starb vier Monate danach, damit zerstoben Kleists Hoffnungen auf ihre Protektion. Gewohnt hat das Königspaar nicht im Schloss, sondern im Kronprinzenpalais Unter den Linden,

(10) Familie Vogel, Markgrafenstraße 60: Wohnung von Henriette und Friedrich Ludwig Vogel, in deren Haus Kleist seit etwa 1809 verkehrte. Durch die Begegnung mit Henriette sei seine Seele “zum Tode ganz reif geworden”, schreibt Kleist zwei Tage vor seinem Selbstmord. Am 21. November 1811 erschießt er am Kleinen Wannsee erst die krebskranke Freundin, dann sich selbst. Henriette trägt dem Freund Ernst Friedrich Peguilhen, der die Bestattung regeln soll, auf, eine Porzellantasse mit ihrem Namen anfertigen zu lassen und sie dem „guten Vogel” als postumes Weihnachtsgeschenk zuzustellen. Ihren Mann bittet sie, einer gemeinsamen Freundin „unsre kleine messingne Kaffeemaschine“ zu schenken. Genau diese Freundin heiratet der Witwer Friedrich Wilhelm Vogel knapp sechs Monate später.
Der Kleist-Stadtplan von Michael Bienert wurde zuerst veröffentlicht im Tagesspiegel vom 27. Februar 2011

Das Kleistgrab am Kleinen Wannsee. Der Ort, an dem sich Kleist am 21. November 1811 das Leben genommen hat, lag damals näher an Potsdam als an Berlin; erst 1920 wurde die Grabstätte am Kleinen Wannsee nach Groß-Berlin eingemeindet. Da Selbstmord als schwere Sünde galt, wurden Kleist und Henriette Vogel nicht auf einem Friedhof, sondern ganz in der Nähe des Tatorts beigesetzt. Sehr bald entwickelte sich der Ort zu einer regelmäßig mit Blumen bekränzten Wallfahrtsstätte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden erste Gedenksteine auf das Grab gesetzt. Der Schriftsteller Max Ring gehörte 1862 zu den Spendensammlern für einen Marmorstein, von ihm stammt das schöne Epitaph:
Er lebte sang und litt
In trüber schwerer Zeit,
er suchte hier den Tod
und fand Unsterblichkeit.
Der Grundeigentümer Prinz Friedrich Leopold von Preußen wollte 1905 das Grundstück mit dem Kleist-Grab an eine Terraingesellschaft verkaufen, die dort den Bau von Villen plante. Die drohende Verlegung des Grabes löste aber einen Sturm der Entrüstung in der Presse aus. Um den Deal und seinen Ruf zu retten, schenkte der Prinz einen schmalen Landstreifen mit der Grabstelle dem Deutschen Reich. Damit war ihr Bestand gesichert, der bisherige Zugangsweg jedoch blockiert. Grab und Seeufer sind bis heute nur über die in der Kaiserzeit neu angelegte Bismarckstraße erreichbar, nicht über einen Uferweg, wie ihn Kleist benutzt hatte.
Zu den Olympischen Spielen in Berlin 1936 präsentierte sich die touristische Sehenswürdigkeit in aufgeräumtem Zustand. Das schmiedeeiserne Gitter um die Grabstelle wurde seinerzeit erneuert und als neuer Grabstein der Granitquader ausgewählt, der dort bis heute steht. Er ist auf zwei Seiten beschriftet – mit unterschiedlichen Namen, Geburtsdaten und Grabsprüchen, was in dieser Form ziemlich einzigartig und das Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen um den unter nationalsozialistischen Vorzeichen veränderten Stein ist.
Das Epitaph des jüdischen Poeten Max Ring wurde noch 1936 auf den Granitblock übertragen, ohne dass jemand Anstoß nahm. Doch fünf Jahre später, auf dem Höhepunkt der Judenverfolgung im „Dritten Reich“, verschwanden die Verse des „nichtarischen“ Dichters. Sie wurden durch einen pathetischen Vers aus Kleists Drama Der Prinz von Homburg ersetzt, der zur NS-Rhetorik passte: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“
Als der 200. Todestag Kleist näherrückte, stellte sich die Frage: Soll das alles so bleiben oder hat Kleist nicht Besseres verdient? Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft Günter Blamberger plädierte für ein ganz neues Denkmal an der prominentesten Romantiker-Gedenkstätte Berlins. Er hatte sogar schon eine Finanzierungszusage von der Kulturstiftung des Bundes für einen Kunstwettbewerb in der Tasche. Doch die Ankündigung löste einen heftigen Streit unter Kleistfreunden und Denkmalschützern aus. Dabei ging es auch um das Geburtsdatum auf dem vorhandenen Stein, den 18. Oktober 1777. Denn Kleist hatte seinen Geburtstag immer am 10. Oktober gefeiert. So hielten es seine Verehrer, bis 1876 ein Kirchenbucheintrag auftauchte, wonach Kleist erst acht Tage später in Frankfurt (Oder) zur Welt gekommen sei. Doch können auch amtliche Dokumente irrige Angaben enthalten. Das schriftlich überlieferte Datum müsse nicht das wahre sein, so die Argumentation einiger Kleist-Forscher.
Und in welcher Form sollte die Grabstätte zukünftig an Henriette Vogel erinnern, die Freundin, die, wie Kleist schrieb, seine Seele reif zum Tode gemacht hatte, ihn am Ende begleitete und mit ihm begraben liegt? Für sie war erst 2003 ein eigener kleiner Grabstein gesetzt worden, bis zu diesem Zeitpunkt hatte nichts an sie erinnert.
Die Widerstände gegen eine grundlegende Neugestaltung der Gedenkstätte pünktlich zum 200. Todestag am 21. November 2011 waren enorm. Außerdem ereilte den Berliner Senat die 500 000-Euro-Spende einer Stiftung, die sich vor allem für den Denkmalschutz engagiert. Das Landesdenkmalamt plädierte dafür, den Grabstein aus den 1930er-Jahren zu erhalten und auf Informationstafeln die komplexe Geschichte der Grabstätte zu dokumentieren. Die Berliner Gartendenkmalpflege nutzte die Gelegenheit, weiträumig um das Grab den Wildwuchs zu beseitigen und den Charakter eines Wäldchens mit Durchblick auf den See wiederherzustellen.
Die Inschrift auf dem Grabstein aus der NS-Zeit blieb erhalten. Aber der Stein wurde 180 Grad um die eigene Achse gedreht. Die vormalige Rückseite ist jetzt die Vorderseite und grüßt Besucherinnen und Besucher mit einem alternativen Geburtsdatum. Henriette Vogels Name wurde mit eingraviert und auch die Verse des von Max Ring kehrten auf den Granitstein zurück. So wurden alle irgendwie zufrieden gestellt. Und solange das zuständige Gartenbauamt ein Auge auf den Parkstreifen hat, ist dies ein sehr vorzeigbarer Ort für alle, die sich von Kleists Sprache getroffen fühlen.
Der Text über das Kleistgrab ist ein Auszug aus: Michael Bienert, Das romantische Berlin. Literarische Schauplätze, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2022.